Der letzte Tatort

Natürlich war das nicht der letzte „Tatort“, aber es war zumindest der letzte Tatort, den ich gesehen habe. Und das war 1997. Folgender Bericht erklärt, warum.

TStellen Sie sich vor, Sie hörten einen altmodischen Fernschreiber tickern. Solche Dinger gibt es heutzutage zwar höchstens noch in einer Neben­stelle der Volkhochschule Moçambique, aber der Sound ist einfach unübertroffen. Folgende Worte erscheinen vor ihrem geistigen Bildschirm, Buchstabe für Buchstabe.

Datum: 11. Dezember 1997

Uhrzeit: 20:15 Uhr

Ort: Zwingenberg

Es könnte sich natürlich auch um eine etwas modernere Computerschrift handeln. Selbst in „state-of-the-art“- Produktionen wie „Mission Impossible“ oder „Goldeneye“ erscheinen da die Buchstaben immer einzeln, aufeinanderfolgend, also sozusagen „linear-progressiv“, um mal einen Kraftausdruck zu gebrauchen, PLUS Klickgeräusch (!!) auf einem dunklen Bildschirm. Das Geräusch ist so notwendig wie Megaperls auf einem Nutellabrot, aber es klingt einfach geil und schürt Erwartungen.

Damit wäre der spannende Teil erledigt. Was jetzt folgt, ist die getreue Nach­erzählung, des idiotischsten Tatorts, den ich je … aber lassen wir die Bilder sprechen.

Also ganz zu Anfang liegt ein Fahrrad im Wasser. In Kiel. Neben einem Schiff. Das ist an sich gar kein schlechter Anfang, oder? – man vermutet einen Pollution-Thriller, oder ein hintergründiges Psychospektakel á la Polanski „Vati nahm das Fahrrad viel zu früh“. Aber es bleibt erstmal bei dem Fahrrad. Die Kameraeinstellung dauert ungewöhnlich lange, so als sei der Kameramann zwischendurch Pizza holen gegangen. Der Cutter natürlich auch. Und der Regisseur hatte eine dringende Verabredung.

Schnitt. Ein Krankenhaus. Ein Mädchen wurde überfallen. Nachdem der Kieler Kommissar seine Tränensäcke sortiert hat, erfahren wir irgend­wann, daß dieses Fahrrad dem Mädchen gehörte. Aber warum liegt es im Wasser?

Wieder eine endlose Einstellung. Man sieht den Verlobten des Mädchens beim Autofahren. Gang rein. Gas geben. Kuppeln. Gang raus, Kuppeln, Gang rein. Aus dem Fenster starren. Jetzt grimmig aus dem Fenster starren. Ein Fahrschuhlthriller? Spätestens jetzt nehme ich die Fernsehzeitung und schaue nach, wer hier die Regie geführt hat. Ich vermute ein Frühwerk von Wim Wenders. Oder ein Spätwerk von Alexander Kluge. Der eine hat noch nicht gelernt, daß Kameras auf schwenkbaren Stativen stehen, der andere hat es schon wieder vergessen.

Aber ein Blick belehrt mich: Der Regisseur heißt Wolfgang Storch. Und der Tatort ist mit Manfred Krug. Deshalb hat ihm meine Frau auch eingeschaltet. Die steht nämlich auf Manfred Krug. Und ich eigentlich auch. Aber Manni ist immer noch nicht aufgetaucht. Stattdessen hält Michael Neutze seine Tränensäcke zum Trocknen in die Kieler Förde. Zwischendurch Dialoge. Der Verlobte ist nun endlich wo angekommen und quetscht einen Hafenbeamten aus. Will wissen, wann welches Schiff wohin gefahren ist. Woher weiß der Verlobte eigentlich so gut über Schiffe Bescheid? Der Dialog ist so spannend wie Professor Teebollers Vortrag über die Umwandlung von Celsius in Fahrenheit.

Ich frage behutsam nach, ob man vielleicht nicht auf den Kriegsfilm in Pro Sieben…? Nein? Na gut. Ich seufze. Vielleicht passiert ja noch was. Vielleicht taucht Manni ja noch auf. Ich gucke sicherheitshalber noch mal im Fernsehheft nach, ob der Stöver auch wirklich..ja da stehts. Kommis­sar Stöver zusammen mit dem Kieler Kollegen, wiehießerdochgleich..Ich weise nachdrücklich daraufhin, daß der Kriegsfilm in ProSieben immerhin mit Rock Hudson…Sinnlos. Der läuft doch auch schon eine Weile. Ich verkneife mir die Bemerkung, daß der Tatort hier auch schon eine ganze Weile läuft, es aber keiner merkt. Verkneife sie mir dann doch nicht, weil ich sie einfach zu gut finde. Kommt aber nicht an. Man sagt ich solle die Klappe halten, man könnte was verpassen. Was verpassen? Vielleicht die dritte Abzweigung hinter der fünften Förde.

Es folgt Sightseeing. Ein Schiff fährt von links nach rechts durch Bild. Über die Elbe. Drei Minuten lang. Jetzt seufzt auch meine Frau. Vor allem die Musik! Ein einfacher Akkord, gebrochen auf einem Keyboard mit Rhythmusautomatik gespielt, in einer wehleidigen Mischung aus Rondo Veneziano und Wolfgang Petri. Keine echte Melodie (das hätte zu sehr von der spannenden Handlung abgelenkt) und immer dieselbe Akkordfol­ge, als hätte der Komponist gerade mal Kadenzen üben müssen.

Ich sinniere über das Vorleben des Wolfgang Storch als Dokumentarfilmer. Wahrscheinlich hat er Störche beim Brüten gefilmt. Stundenlang. Hat dafür den Spezialpreis der Storchenjury von Storchenhausen gekriegt. Für die gründlichste, vollkommenste und informativste Storchen-Brüt-Berichterstattung von 1955. Deshalb ist er beim Fernsehen gelandet. Sein erstes Drehbuch: „Tatort Storchennest“ wurde wahrscheinlich erst einmal abgelehnt. Zuwenig Tote. Zuviele nasse Fahrräder. Aber er hat nicht aufgegeben. Er hat für seine dokumentarisch einmaligen Elbeschif­fahrtsbilder gekämpft wie ein tollwütiges Zebra. Wahrscheinlich hat der den Heimatbeauftragten der vereinigten Hansestädte belabert, der sich dann wiederum mit der Elbe-Schutzgesellschaft kurzgeschlossen hat, um eine starke Lobby zu bilden, die solange Druck auf den Intendanten des NDR ausübten (nächtliche Terroranrufe, Entführung der Katzenkinder) bis dieser japsend das Drehbuch genehmigte.

Inzwischen gibt es eine neue Kameraposition. Ein Schiff fährt von rechts nach links durchs Bild. Man erhält tiefe Einblicke in das Leben eines Schleusenwärters. Währenddessen gibt der Verlobte des verletzten Mädchens immer noch Fahrstunden per Video. Und übt „grimmig-aus-dem-Fenster-starren“ mit einem Schuss Nachdenklichkeit.

Ich hoffe inständig, dass er irgendwo gegen fährt. Oder unkontrolliert in der Gegend herumballert. Oder dass das Schiff explodiert. Aber dann denke ich an den Durchschnittsetat eines NDR-Tatorts und resigniere. Das KANN ja gar nicht gehen…

Jetzt wird‘s spannend. Das Schiff hat angelegt. Es ist dunkel. Beste Voraussetzungen. Der Verlobte telefoniert mit dem Krankenhaus. Seine Verlobte ist leider an einem Blutgerinnsel gestorben. Mensch NDR!…War doch nur Telefon! Da hätte der Schauspieler doch nun wirklich sagen können: „Das Krankenhaus ist explodiert! Das Kattegatt wurde gesprengt! Alles schwimmt in Blut und Tränen“ Das hätte doch überhaupt nix gekostet! Aber nein: Blutgerinnsel, wie öde. Na wenigstens haben wir jetzt mal eine Leiche.

Nun steht wahrscheinlich im Drehbuch, dass der Verlobte ernst und betroffen gucken soll. Also setzt er jenen Gesichtsausdruck auf, der im Repertoire-Almanach der Schauspielkunst mit Nr. 15b „Ernste Betroffenheit mit einer Spur von Trauer“ betitelt ist. Aber das klappt nicht ganz, denn es sieht eher danach aus, als hätte er gerade erfahren, dass Schalke verloren hat.

Der Verlobte sitzt im Gebüsch und beobachtet das Schiff. Irgendwo im Hintergrund fährt quietschend ein Auto um die Kurve. Hat aber nix mit dem Film zu tun. Null.

Im Schiff selbst sieht man den Ingenieur zum Pinkeln gehen und wieder zurück. Sehr eindrucksvoll. Das Ganze dauert ewig. So lange wie das im richtigen Leben tatsächlich dauert. James Bond hätte in der Zwischenzeit Petrograd zertrümmert, Sharon Stone flachgelegt und Schimanski verprügelt. Oder umgekehrt. Aber was soll‘s. Dafür wissen wir jetzt, wie es aussieht, wenn ein Schiffsingenieur von der Reling ins dunkle Wasser pinkelt.

Schnitt. Tag. Manni kommt! Na endlich. Er fährt Auto, telefoniert währenddessen mit seiner Einsatzleiterin und nölt, dass er den Kai Soundso nicht finden kann. Das wirkt ja nun wenigstens etwas lebendig. Manni hält eben was er verspricht. Er kommt am Tatort an, nölt erwartungsgemäß weiter und rutscht den Abhang runter zur Leiche. Es ist der Schiffsingenieur. Ertrunken.

Spätestens jetzt ist auch dem blödesten Zuschauer klar: Der Verlobte war‘s. Der Schiffsingenieur hat das Fahrrad des Mädchens ins Wasser geschmissen. Dabei wurde irgendwie das Mädchen beschädigt. Daraufhin hat der Verlobte den Ingenieur ins Wasser geschmissen. Okay, der Rest ist Routine. Plötzlich wird das ein ganz normaler Tatort. Als hätte an dieser Stelle jemand anderes die Regie übernommen, weil Herr Storch mit seinem dokumentarischen Elbequatsch allen auf den Sack gegangen ist. Vielleicht hatten sie auch endlich einen richtigen Kameramann, nachdem der 12-jährige Sohn des Intendanten keine Lust mehr dazu hatte.

Was folgt, ist trotzdem verblüffend: Es stellt sich heraus, dass der Beau des Schiffes, ein unsympathischer Weiberheld, der Verlobten das Blutge­rinnsel verschafft hat. Am Schluß wirds ungeheuer dramatisch, der Verlobte schießt den Weiberhelden in die Schulter und Manni erschießt den Verlobten. Warum weiß keiner. Er selber auch nicht, stand wohl nicht im Drehbuch. In der Schluss Einstellung sieht man Kommissar Stöver minutenlang nachdenklich vor sich hinstarren. Worüber denkt er wohl nach? Betroffenheit wegen des armen Verlobten? Wegen des Drehbuchs? Nein – er denkt darüber nach, wer den verdammten Schiffsingenieur ins Wasser geschmissen hat. Das wurde nämlich völlig vergessen. Ich kann mir so richtig vorstellen, wie das bei der Drehbuchpräsentation gelaufen sein muss:

Drehbuchautor: „Also die Idee ist folgende: Ein Matrose fällt ins Wasser und ersäuft. Klasse, was?“

Regisseur: „Aber warum fällt der Mann denn ins Wasser?“

Drehbuchautor: „Das ist doch völlig egal. Vielleicht weil ihn jemand geschubst hat?“

Regisseur: „Und wer hat ihn geschubst?“

Drehbuchautor: „Ähh … weiß nicht. Vielleicht der Verlobte?“

Regisseur: „Welcher Verlobte?“

Und so ging‘s weiter. Bis sie am Schluss völlig vergessen hatten, warum der Ingenieur ersoffen war. Stattdessen landete ein Fahrrad im Wasser. Und zuguterletzt ein ganzer Tatort. Und mein Fernsehabend.

co. Rael Wissdorf 1997