Textprobe aus „Bombay Business“

Mein wunderbarer Hexenalltag – Episode 1

Neulich – als ich für meine Schwester wieder mal Kinderchauffeur spielte und demzufolge ihre Tochter vom Kindergarten abholen durfte, zeigte mir die 5-jährige Elvira ein Bild, sie hatte es selbst gemalt.. Für gewöhnlich kann ich mit der mehr abstrakten Ausdruckskunst minderjähriger Mal-Genies wenig anfangen – daher vermeide ich die tantenüblichen Ausrufe von „ach wie schööön“ (was soll an einem pitschnass gepinselten Motorrad mit Tesafilm und Karottenauspuff schön sein?) bis „hast duuuu das gemalt?“ (wer denn sonst?) und setze eine ratlose Miene auf.

Beim erwähnten Bild versagte meine Interpretationskunst jedoch völlig, denn es waren nichts weiter als zwei halbwegs parallele schwarze waagerechte Striche darauf zu sehen.

„Hm,“ sagte ich zu meiner zahnlückig grinsenden Elvira. „Hast du das selber…ähm.. ich meine, ist das eine neue Variante von Kandinskys übereinander gefallenen Stabhochspringern?

„Nein,“ antwortete Elvira beleidigt, und fragte auch gar nicht erst, wer Kandinsky sei. „Das ist eine Strasse, das sieht man doch.“

„Ah – klar. Zumindest die Anzahlung auf eine Strasse. Die Bauarbeiten haben aber noch nicht begonnen, oder?“

Elvira nahm mir seufzend das Blatt aus der Hand und hielt es mir noch mal vor die Nase.

„Da ist eine Hexe drauf, die sieht man aber nicht, weil sie noch nicht im Bild angekommen ist.“

„Ach. Und warum ist sie noch nicht im Bild angekommen.“

„Weil sie auf ihrem Besen gegen einen Pfeiler gerast ist. Wumm!“

Das leuchtete mir ein. Wenn die Hexe gegen einen Pfeiler gerast war, konnte sie logischerweise noch nicht im Bild sein. Aber warum war sie gegen den Pfeiler gerast?

„Aber warum ist sie gegen den Pfeiler gerast?“ fragte ich meine neunmalkluge Elvira.

„Na sie wollte zu dem Typ hier drüben.“

„Welchem Typ?“

„Dem hier rechts vom Bild.“

„Lass mich raten. Wir können ihn noch nicht sehen, weil er noch nicht im Bild angekommen ist.“

„Genau. Weil – er ist nämlich in das Loch hier gefallen.“

Sie fuchtelte irgendwo rechts vom Bildrand herum.

„Ich nahm das Bild wieder an mich.

„Kannst du mir mal erklären, warum du lauter Sachen malst, die du dann doch nicht malst?“

„Das ist nicht so anstrengend und geht viel schneller.“ Damit lehnte sie sich erschöpft in den samtweichen Beifahrersitz zurück. „Außerdem: die sind ja da, warum muss ich die dann extra noch malen?“

Mit dieser Antwort hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, aber ich musste zugeben, sie war brilliant. Ich tätschelte meiner kleinen Nichte den Kopf, gab ihr das Bild zurück und startete den Motor.

Ich fuhr langsam die Strasse entlang, vorsichtig den Baustellen ausweichend, die wieder mal den Verkehr behinderten. Hinter der Baustelle klebte eine Hexe an einem Pfahl, in den sie auf ihrem Besen wohl reingerast sein musste, als sie zu dem Typ da hinten wollte, der aber längst in das Bauloch gefallen war. Natürlich konnte man das alles nicht sehen, aber ich wusste, dass sie da waren. Meine Nichte hatte sie ja schließlich gemalt.

 

© Rael Wissdorf. Erstveröffentlichung in „Sternenzeit Magazin“