Plot oder nicht Plot? Zwischen Struktur und Chaos im Erzählen
Eine der ältesten Fragen des kreativen Schreibens lautet: Brauche ich einen Plot? Oder reicht eine starke Figur, eine Stimme, ein Thema? Wer sich durch Schreibforen klickt oder mit Autor:innen diskutiert, merkt schnell: Die Meinungen klaffen auseinander.
Auf der einen Seite stehen die Verfechter:innen der klassischen Dramaturgie, allen voran der Heldenreise nach Joseph Campbell oder Christopher Voglers Modell: Klar definierte Stationen, Wendepunkte, Klimax und Rückkehr. Auf der anderen Seite: intuitive Erzähler:innen, die sich treiben lassen, in Szenen leben, Figuren beobachten und der Handlung keine Zügel anlegen wollen.
Ein persönlicher Weg zwischen den Welten
Als ich die erste Zeile Prosatext schrieb, war ich elf Jahre alt und baute eine kleine Theaterszene einfach nur aus dummen Sprüchen zusammen. Es hieß „Kacsamalca Pedro oder Kekse Kekse Kekse“. Meine Schulkameraden fanden die Kombination aus Krümelmonster und Banditenchef köstlich. An Plot war da allerdings nicht viel zu erkennen, denn das Ganze endete einfach in einer mäßig choreografierten Prügelei á la Bud Spencer und Terence Hill.
Später kopierte ich wie wild die Satiren von Ephraim Kishon, weil ich ihn kurzfristig zum Gott erhoben hatte, doch bald schon hatte mich die Fantasy im Griff. Mein Fundament bestand ohnehin aus einer soliden Mischung aus Karl May und Jack London. Meinen ersten echten Romanentwurf schrieb ich dann mit siebzehn. Ich verbrachte unglaublich viel Zeit damit, Namen zu erfinden, Kontinente und Inseln zu kreieren und alle möglichen Figuren in diese Welt hineinzuwerfen – unter anderem eine sprechende Katze. Schon nach etwa 80 Seiten blieb ich stecken, denn ich hatte einfach keinen Plan, wie die als Reiserzählung angefangene Story weitergehen sollte. Interessanterweise plünderte ich aber diese 80 Seiten später gründlich für meinen Roman Yanthalbor. So ganz sinnlos war das Ganze also nicht.
Erst mit meinem ersten Krimi entdeckte ich das Plotten. Schreiben ist also ein Prozess aus innerem Worldbuilding, dem Erfinden von Charakteren und den Erlebnissen dieser Figuren in der selbst geschaffenen Welt. Wobei sich dieser Vorgang nicht auf Fantasywelten beschränkt. Letztlich ist jede Welt, sei es das reale London oder eine völlig erfundene, das Ergebnis von Worldbuilding. Das Schreiben kann also auch als innere Reise betrachtet werden, in der man manchmal nicht weiß, was oder wer einem begegnet.
Das Beste aus beiden Welten?
Tatsächlich zeigt die Literaturgeschichte, dass zwischen diesen beiden Polen ein weites Feld liegt: Werke, die strukturelle Klarheit mit erzählerischer Freiheit kombinieren. Hier eine Auswahl bemerkenswerter Beispiele:
– Der Herr der Ringe (J.R.R. Tolkien): Frodos Reise folgt der Heldenreise, doch das Worldbuilding und die zahlreichen Nebenpfade (z. B. Tom Bombadil) durchbrechen den Plotfluss und erweitern das Epos ins Mythische.
– Die Unendliche Geschichte (Michael Ende): Erst klassische Struktur, dann bewusste Auflösung. Bastians Reise verflüssigt sich, wird zur Selbstsuche jenseits linearer Dramaturgie.
– Der Report der Magd (Margaret Atwood): Kaum klassische Handlung, dafür eine dichte Innenwelt. Die Bedrohung entsteht aus Andeutungen, Erinnerungen und psychologischer Spannung.
– Middlesex (Jeffrey Eugenides): Episodenhafte Biografie mit losem roten Faden. Kein Ziel im klassischen Sinn, aber eine Entwicklung, die emotional nachdrücklich ist.
– Pulp Fiction (Quentin Tarantino): Filmisch, aber lehrreich: Die Chronologie ist fragmentiert, doch jede Episode folgt ihrer eigenen Mini-Dramaturgie. Das Gesamtbild ist überraschend kohärent.
– Der Steppenwolf (Hermann Hesse): Innere Reise ohne äußeren Plot. Ein Labyrinth des Selbst, dennoch mit Spannungsbögen und Transformation.
Und was bedeutet das für dein Schreiben?
Du musst dich nicht entscheiden. Auch wenn ein Plotgerüst Sicherheit gibt, darfst du es loslassen, sobald es dich fesselt. Ebenso darf ein chaotischer Entwurf später strukturiert werden. Viele große Erzählwerke wurden erst im Nachhinein dramaturgisch gestrafft.
Schreibe wild. Denke strukturiert. Oder auch umgekehrt. Wichtig ist nur: Bleib bei deinen Figuren. Denn sie tragen jede Geschichte – mit oder ohne Plot.
Rael Wissdorf – Autor, Lektor, Coach