Geschichten handeln von Menschen, nicht von Ideen


Geschichten handeln von Menschen, nicht von Ideen.

Dieser Satz stammt (vielleicht) von Marion Zimmer-Bradley (oder auch nicht, manche sagen, er wäre von Borchert). Er ist einer dieser seltenen Sätze, die sich tief einbrennen, weil sie etwas sagen, das man eigentlich immer schon wusste. Und doch müssen wir es uns in Erinnerung rufen, immer wieder, wenn wir schreiben, lehren, kritisieren oder beraten. Denn er enthält das vielleicht wichtigste Geheimnis guter Erzählkunst: Leserinnen und Leser interessieren sich nicht für die Idee an sich. Sie wollen wissen, was mit den Menschen passiert.


Wenn wir früher jemandem erzählten, was wir am Vorabend im Kino gesehen hatten, dann kam nie die Frage: „Und wie war der Soundtrack?“ oder „Was symbolisiert das Schwert?“ Sondern: „Und was ist dann passiert? Hat er sich gerächt? Haben sie sich gekriegt?“

Unsere Zuhörer wollten wissen, was mit den Menschen in der Geschichte geschah. Das Herz des Erzählens ist der Mensch.

Selbst in epischer Fantasy, wo es um Welten, Magie und mythische Objekte geht, ist das alles nur Hülle. Der Ring interessiert niemanden. Was uns bewegt, ist Frodo. Sam. Gollum. Ihr innerer Kampf, ihre Entscheidungen, ihr Zerbrechen und ihr Wachsen. Der Ring ist nur der Katalysator, das, was diesen Wandel provoziert.


Ideen sind leicht. Figuren sind schwer.

Eine Idee hat man in Sekunden. „Was wäre, wenn ein magisches Artefakt die Welt bedroht?“ – schön. Aber wen betrifft das? Wer verliert seinen Bruder, weil er das Artefakt zu spät erkennt? Wer muss sich zwischen Liebe und Pflicht entscheiden? Wer zerbricht daran? Wer wird zum Helden, obwohl er nie einer sein wollte?

Die wahren Geschichten beginnen da, wo die Idee auf den Menschen trifft. Wenn sie zur Erfahrung wird.


Gute Geschichten sind wie Klatsch. Und wie Katharsis.

Das mag trivial klingen. Aber in Wahrheit sind alle großen Geschichten Varianten dessen, was wir seit Jahrtausenden weitergeben: Wer liebt wen? Wer verrät wen? Wer stirbt für wen?

Im privaten Erzählen nennen wir das Gossip. In der Literatur ist es die Verarbeitung existenzieller Fragen. Gute Literatur ist beides: sie bedient die Neugier des Alltags und übersetzt sie in das Symbolische. Sie stillt den Hunger nach Drama und schafft gleichzeitig eine ethische Fallhöhe.


Die Fantasy begeht oft denselben Fehler.

Sie verliert sich in Weltenbau. In Völkern, Magiesystemen, Herrschaftsstrukturen. Alles wunderbar – solange wir jemanden haben, dessen Herz darin schlägt.

Ohne glaubhafte Figuren ist Worldbuilding wie eine Museumslandschaft ohne Besucher. Es steht nur herum. Erst die handelnde, irrende, liebende, hoffende Figur haucht der Welt Leben ein.


Was bedeutet das für uns als Autor:innen und Lektor:innen?

Es bedeutet, dass wir immer zuerst nach der Figur fragen müssen. Nicht: „Was ist die Idee deines Romans?“ Sondern: „Was durchlebt deine Figur? Was verliert sie? Was fürchtet sie? Was hofft sie?“

In meiner Arbeit mit jungen Autor:innen stelle ich fest: Wer seine Figuren liebt, schreibt immer besser. Selbst in holpriger Sprache, selbst in unfertiger Struktur – wenn die Figuren leuchten, tragen sie alles.

Ein schlechter Plot mit starken Figuren wird trotzdem gelesen. Ein starker Plot mit schwachen Figuren wird vergessen.


Und die Idee? Die Moral? Die Botschaft?

Sie ergibt sich. Aus dem, was die Menschen tun. Aus dem, was sie nicht tun. Aus dem, was sie bereuen. Gute Literatur ist nie These. Sie ist immer Prozess.

Sie zeigt, statt zu behaupten. Und was sie zeigt, ist nicht die Idee – sondern der Mensch, der an ihr leidet oder an ihr wächst.


Ich glaube: Wer Menschen erzählt, übertrifft jede Theorie.

Denn was uns bleibt nach einem guten Buch, ist nicht die „Struktur“ oder der „Themenkomplex“. Es ist ein Blick. Ein Satz. Eine Geste.

Es ist Sam, der sagt: „Ich kann ihn nicht für dich tragen – aber ich kann dich tragen.“

Das ist der Moment, der bleibt. Und das ist es, was Erzählen vermag. Alles andere sind nur Ideen.

Jack London – Die Zwangsjacke

The Star Rover (Die Zwangsjacke):
Astralwanderung im Strafvollzug

Dieser Essay erschien – zusammen mit einer Kurzbiographie, die hier ebenfalls gelesen werden kann – in einer Neuausgabe des Romans „Die Zwangsjacke“ im Axel Dielmann Verlag in einer Neuübersetzung der talentierten Uschi Gnade.

Von Reinhard Rael Wissdorf

Sah sie ihn mit runden, bewundernden Augen an, oder blickte sie skeptisch von der Seite? Sass sie ihm offen gegenüber oder verkroch sie sich hinter ihrem Notizblock und kaute an ihrem Bleistift, während sie ihm lauschte? Wir wissen nicht, was die junge Journalistin Sophie Treadwell am 28. Februar 1914 auf Jack Londons Ranch wirklich tat, als sie den berühmten Autor zu seinem neuen Romanprojekt interviewte. War sie gekommen, weil sie glaubte, von dem Sohn des bekanntesten Astrologen Amerikas und einer berüchtigten Spiritistin etwas bahnbrechendes über Reinkarnation zu hören? [1] Wenn ja, dann wurde sie enttäuscht, denn zu hören bekam sie dies: „Jack London – Die Zwangsjacke“ weiterlesen

Jack London – Eine Biographie mehr

Das kurze Leben des Jack London

San Francisco war in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts auf ähnliche Weise eine Art „Flower-Power“ Metropole, wie hundert Jahre später in den sechzigern des zwanzigsten Jahrhunderts. Unzählige okkulte Gruppen, spiritistische Zirkel und selbsternannte Propheten, zudem gewagte soziale Gruppenexperimente und vollkommen neuartige Lebenskonzepte bildeten in dieser mehr als ungewöhnlichen Stadt für einige Jahre einen idealen Nährboden für die verschiedenen Spielarten menschlicher Koexistenz, bis die Rezession alles hinwegraffte. Mitten hinein in diesen Sog von Ideen und Konzepten gebar Flora Wellman am 12. Januar 1876 einen Sohn, den sie John Griffith nannte, und nach dem Namen des Erzeugers, mit dem sie in einer Art „wilder Ehe“ zusammenlebte: Chaney. William Henry Chaney, mehr als 20 Jahre älter als die kleinwüchsige Klavierlehrerin aus Massillon, Ohio, war zu dieser Zeit ein bekannter Astrologe, Journalist und Vortragsreisender, der eine Gruppe von (meist jüngeren) Adepten um sich geschart hatte. Die Verbindung zu Flora Wellmann war eine „amour fou“ eine jener verrückten „Lebensabschnittsgemeinschaften“ wie sie hundert Jahre später Gang und Gäbe waren. Die Vaterschaft erschien ihm als eine zu schwere und zweifelhafte Bürde, als dass er sich fröhlich dazu bekannt hätte. Im Gegenteil – er bestritt vehement irgendetwas mit dieser Geburt zu tun zu haben, behauptete von sich selbst impotent zu sein und wehrte sich gegen jede Verantwortung. Mit dem Erfolg, dass die ganze Geschichte durch die energische Flora in der Presse aufgerührt wurde, und Mr. Chaney nur noch die Flucht in den Norden blieb. Jack London erfuhr erst im Alter von zwanzig von der Existenz des leiblichen Vaters. Es war der Kriegsveteran John London, der kurze Zeit später dem Knaben seinen weltberühmten Namen gab, ihn großzog, ihm die Liebe zum Landleben einpflanzte, ihm leider aber auch allzu früh die Verantwortung für die Ernährung der vielköpfigen Familie übertrug. „Jack London – Eine Biographie mehr“ weiterlesen