Textprobe Yanthalbor

Als wir nach zwei Tagesmärschen aus dem Vorgebirge herauskamen, erstreckte sich unter tief hängenden, dunkelgrauen Wolken ostwärts, nordwärts und nach Süden, so weit das Auge reichte, das Ekquis Dolke, das Süßwassermeer.

Wie flüssiges Blei, grau und schwer wogte das Wasser in weitläufiger Dünung, zuweilen von Schaumflocken gekrönt, in die Bucht von Dhruum.

Der nördlichste Ort der Welt, den Medelin auch „die Wegscheide“ nannte, entpuppte sich als kaum hundert Häuser groß. Wir  standen auf den Klippen hoch über der Stadt und blickten in die Tiefe hinunter. Ich nahm mein Glas und sah hindurch.

Die Hafenmole war aus rohen, grob behauenen Steinquadern erbaut, kein einziges Schiff ankerte dort. Auch kein Boot, keine noch so jämmerliche Barke in den grauen Wassern. Die schweren, bronzenen Ringe an der Hafenmauer waren überzogen von Algen, Schmutz und Patina. Dhruum war um eine Feste herum gebaut, die sich schwarz und klobig am Hang erhob, ein zwar kleines, nur aus Bergfried, einem Haupt- und einem Nebengebäude bestehendes, aber nahezu uneinnehmbar wirkendes Bollwerk, denn zur Bucht hin, fielen die Mauern steil ab und nach Norden und zum Dorf zogen sich breite Gräben um die Burg. Am Fuße des Hanges und zum offenen Ende der Bucht hin, breitete sich halbkreisförmig Dhruum selbst aus, umfasst von einer Stadtmauer, die gerade über zwei Tore und vier Wehrtürme verfügte. Die Häuser waren aus einem schwarzen, groben Stein gemauert, wahrscheinlich aus Brüchen in eben jenem Vorgebirge, in dem wir uns noch befanden; die Fugen hatte man mit Lehm verschmiert. Kleine Fenster und niedrige Türen ließen die Häuser geduckt und unfreundlich erscheinen und in den reetgedeckten Dächern klafften oft große Löcher. Einzig die Bronzekuppel des Bergfrieds schimmerte noch an einigen Stellen matt im trüben Tageslicht, dort wo  Patina sich noch nicht eingefressen hatte.

Die alte Stadtmauer wirkte schartig und wies zahllose Durchbrüche auf, die Türme und Tore wirkten unbemannt, jedenfalls zeigte sich keine lebende Seele in meinem Fernglas. Dhruum wirkte so lebendig wie eine Geisterstadt, selbst die Ruinenstadt, mit ihren obskuren Statuen und schweigenden Gemäuern hatte mehr Ausstrahlung besessen, als dieses frühmittelalterliche Städtchen am Rande der Wüste. Die kleinen Gärten hinter den abgelegenen Häuschen nahe der Stadtmauer wirkten verwahrlost und beherbergten allenfalls Sandflöhe in stacheligem Unkraut. Die Luft war trübe und roch brenzlig und ein widerwärtiger Odem von Elend und Unreinheit lag über allem. Am bedrückendsten jedoch, wirkte die schwarze Rauchwolke, die sich im nordöstlichen Ende der Stadt in den Himmel hob.

Ich sah Medelin an. Dieser starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Stadt hinunter, schüttelte leise den Kopf, als traue er seinen Augen nicht. Ich reichte ihm mein Fernglas und er sah eine Weile schweigend hindurch.

„Glaub nur nicht“, sagte er, als ich zu einer Bemerkung ansetzte, von der er sicher Spott erwartete, „Glaub nur nicht Dhruum sei schon immer so..“ er setzte das Glas ab und reckte den Gemäuern die Faust entgegen, „So tot und ausgestorben. Fühl‘ ich doch, dass da etwas faul ist. Da stimmt was nicht, alles wirkt seltsam. Vor wenigen Monden noch ankerten hier Schiffe. Sie sind weg, alle weg!“

„Aber“, wandte ich ein, „diese Ruinen verfallen doch nicht seit vorgestern. Das geht doch schon lange so, oder?“

„Sicher, ja.“ Er lachte bitter. „Dhruum war verwahrlost, schon lange bevor ich es zum ersten Mal sah. Aber trotzdem waren da noch Menschen in den Häusern, armselige Menschen zwar, aber es waren einige Familien, die…doch sieh!“

Er streckte den Arm aus und wies mir die Richtung. Ich nahm das Glas wieder und schaute durch. Und tatsächlich   dort, am Fuße der Festungsmauer bewegte sich etwas. Eine verhüllte, lumpig wirkende Gestalt humpelte gebeugt durch das Burgtor und verschwand in einem langgestreckten Gebäudeteil.

„Ob das der einzige Bewohner ist?“ fragte ich.

„Oh Nein, das ist er bestimmt nicht. Schau, da kommt er wieder, aber er ist nicht allein jetzt.“

In der Tat erschien der gebeugte Alte in Begleitung eines jünger wirkenden Mannes. Sie trugen etwas längliches, eine schmale Kiste, die schwer zu sein schien, denn sie gingen langsam und mühsam in kleinen Schritten.

Ein Sarg! durchzuckte es mich. Sie tragen einen Sarg oder eine Bahre.

Ich teilte Medelin meinen Gedanken mit. Grimmig nickend schien er das Gleiche gedacht zu haben.

 

„Es sieht wirklich ganz danach aus. Vielleicht sollten wir mal nach dem Rechten sehen. Hinein müssen wir ohnehin, denn wir brauchen Proviant und Wasser. Aber ein ungutes Gefühl habe ich dabei.“

Wir folgten dem schmalen Ziegenpfad die Klippen hinab, bis wir den schmalen Kiesstrand erreichten. Hier verlor sich der Pfad und wir folgten den Windungen der Steilküste bis wir hinter den Hügeln die Stadtmauer auftauchen sahen.

„Wovon lebt dieses Dhruum eigentlich?“ fragte ich Medelin. „Ich habe keine Anzeichen von Landwirtschaft erkennen können.“

„Dhruum lebt vom Handel“, antwortete Medelin. „Und zwar von einer Art Handel, wie man ihn in den zivilisierten Städten nicht dulden würde. Diese elende Abgeschiedenheit, sie ist Fluch und Trumpf zugleich, du verstehst?“

„Verstehe“, sagte ich. „Ein Piratennest.“

Je näher wir der grauen Steinfeste kamen, desto stärker wurde Medelins Nervosität. Seine Augen huschten bald hierhin, bald dorthin und, Hand am Schwertknauf, schritt er vornüber gebeugt, die Nase im Wind, als wollte er die Sinnesorgane möglichst weit vor dem Bewegungsapparat haben. Als wir dann das brüchige Nordtor erreichten, blieb er stehen und hielt mich am Arm fest.

„Wir sollten besser nicht durch das Tor gehen“, sagte er, ohne die Mauer aus den Augen zu verlieren.

„Wir sollten besser die Mauer entlanggehen und zusehen, dass wir eine Öffnung finden, durch die wir unbemerkt hinein schlüpfen können.“

Gegen diesen Vorschlag hatte ich nichts einzuwenden. Auch mir lief ein Schauer über den Rücken, wenn ich durch das verwaiste Tor auf den sandigen Vorplatz sah. Der Wind fuhr mit geisterhaftem Heulen über den Platz und trieb eine dünne Wand grauen Staubes vor sich her. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen und ein unheilvolles Schweigen lastete auf den Gebäuden. Dies also war Dhruum, die erste Stadt, die ich seit langer Zeit zu sehen bekam. Eine Totenstadt, ein verfluchter Ort, der so einladend wirkte, wie die Höhle einer Wetterhexe. Zudem war der brenzlig-ölige Geruch stärker geworden. Wir bemerkten eine rußige Schicht auf der Mauerkrone und im Nordosten sahen wir die dunkle Rauchwolke wie einen düsteren Schatten, der sich erstickend über das Dorf legte.

 

Risse und Durchbrüche fanden sich zuhauf in der alten Mauer. Jeder zweite von ihnen hätte uns genügend Platz zum hinein schlüpfen geboten, doch Medelin wich vor jedem Spalt zurück und wurde immer einsilbiger.

„Hier nicht“, hieß es und wenig später: „Hier schon gar nicht   Krankheit und Tod, ich rieche es!“

Langsam keimte ein bestimmter Verdacht in mir auf. Ich entwickelte eine immer deutlichere Vorstellung dessen, was hier geschehen sein musste. Ein Fluch war es tatsächlich, der über der Stadt lag, doch kein Fluch eines boshaften Priesters oder einer üblen Hexe, sondern der Fluch, der uns Lebende von Geburt an begleitet, auf Schritt und Tritt: die Erblast von Krankheit und Tod.

Nur Krankheit, ein bösartiges, teuflisches Virus konnte eine Stadt wie diese in so kurzer Zeit entvölkern. Und als hätte Medelin meine Gedanken erraten, sprang er unmittelbar, das Schwert in der Rechten, durch einen Durchbruch über die nur kniehohe Mauer und wies mit der Linken auf eine trostlose Kate, aus der unverkennbar das Wimmern und leise Wehklagen einer größeren Menschengruppe drang.

Fast lautlos schlichen wir an die Nordmauer des Gebäudes heran und lugten vorsichtig durch die Ritzen des Bretterverschlags der die leeren Fensterhöhlen verdeckte. Es bot sich uns ein jammervoller Anblick.

Düster war der Raum, in den wir blickten; trübes Licht eines schwelenden Talglichts sickerte durch einen aus Bast geflochtenen Paravent gegenüber der rußgeschwärzten Eingangstür. Der Fußboden aus gestampftem Lehm war bedeckt von menschlichen Leibern, die nur notdürftig in Lumpen gehüllt, verkrümmt in ihrem eigenen Unrat lagen.

Die Gesichter verhärmt und von entsetzlichen, roten Schwären bedeckt, starrten sie entweder glasig an die Decke oder hielten die geschwollenen Lider geschlossen. Einige der Frauen und Kinder kauerten in Grüppchen aneinander gedrängt in einer Ecke und gaben mit bebenden Lippen einen monotonen Singsang von sich, der sich von dem Wimmern und Greinen der übrigen nur wenig unterschied.

Dies war ein Haus des Todes. Sterbende lagen hier, der Agonie einer schrecklichen Krankheit verfallen. Die letzten Überlebenden der Hafenstadt vielleicht gar, der todgeweihte Auswurf eines vom Elend regierten Volkes.

 

Nur kurz währte der Eindruck, denn wir zuckten zurück vom Verschlag, als hätte eine Viper uns angesprungen. Allein der Gestank, der alle Sinne betäubte, hätte genügt hier jeden Angreifer in die Flucht zu schlagen.

Medelin sah mich an mit weißem Gesicht, die Lippen zusammengepresst und zog mich hastig weg vom dem Todeshaus in die Zuflucht einer schmalen Gasse, die unter der Burgmauer entlang führte. Ich stellte keine Fragen, sondern folgte ihm durch die Gasse, bis wir an den Eingang gelangten, durch den wir den Alten hatten humpeln sehen. Hier war das langgestreckte Gebäude und auch von dort ging ein deutlich wahrnehmbarer Pesthauch aus, ein Brodem von Eiter und Fieber, der uns den Atem abschnürte. Hier machten wir halt, huschten in die Deckung einer Mauernische und berieten uns.

 

„Agens Rhuk“, sagte Medelin. „Es ist die rote Mader, bei Choros, einen schlimmeren Tod kann man seinem ärgsten Feind nicht wünschen. Geschweige denn seinem Freund.“

Er sah mich besorgt an.

„Ich bin geschützt. Ich habe einen guten Talisman, der vor der roten Mader bewahrt.“

„Und was für ein Talisman soll das sein?“

„Der beste den es gibt“, war seine ernste Antwort. „Die rote Mader selbst. Ich hatte sie vor vielen Jahren, als die Epidemie halb Nekris ausrottete, nach der Schlacht bei Saphi. Man rettete mich indem man…“

Er schwieg und schaute verbittert zu Boden.

Der Anstand hätte mir nun geboten, nicht weiter in ihn zu dringen, aber ich fühlte, dass etwas dahintersteckte.

„Sag es mir, es könnte wichtig sein, vielleicht hilft es auch mir.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich bin dort zum ersten Mal Satara begegnet. Sie wurde mir als die weiße Zauberin des Nordens vorgestellt, und in der Tat, sie hatte schlohweißes Haar und helle, bleiche Haut, so wie du. Aber sie war nicht alt. Für einen Moment war ich sogar von ihrer Schönheit geblendet. Doch als ich sah, was sie tat….“

Er presste die Lippen zusammen und starrte in die Ferne. Ich wartete geduldig. Sicher fiel es ihm nicht leicht, darüber zu sprechen.

„Sie… ließ Leichen einsammeln. Sie hängte sie auf, wie Schafe, Kopf nach unten und schlitzte ihnen die Kehlen auf. Aus dem Blut braute sie etwas. Und dann stach sie mich mit einer feinen dünnen Fibel, etwas derartig filigranes hatte ich noch nie gesehen. Dies tat sie mit der gesamten Leibwache des Königs. Keiner erkrankte.“

„Ist sie noch bei deinem König?“

„Er ist nicht mein König, ich diente ihm nur. Aber nein, sie ist wohl nach Montalbaan gegangen, sie war besessen von Montalbaan und der Kammer.“

Er blickte mich an.

„Von dieser Zauberin geht etwas Schreckliches aus, und ich glaube, du bist hier, um es herauszufinden. Du besitzt natürlich keinen Schutz, es sei denn deine Zauberkräfte…“

„Ich besitze keinerlei Zauberkräfte“, erwiderte ich geduldig. „Aber in meiner Heimat ist es üblich, sich durch Impfungen immun zu machen. Vielleicht bin ich gegen den Erreger dieser Krankheit irgendwann einmal geimpft worden. Ich vermute mal, dass Satara einen solchen Impfstoff entwickelt hat, wenn auch mit primitiven Mitteln. Es zeugt allerdings von großem Wissen – Ich könnte es jedenfalls nicht. Sie hat etwas Gutes getan, Freund Medelin, auch wenn die Verwendung von Leichenblut für euch grauslich erscheint. Wobei mich allerdings sehr interessieren würde, wie sie es zum Fließen gebracht hat, denn tote Körper bluten nicht.“

Er sagte eine Weile nichts, sondern blickte mich ruhig an. Dann sagte er:

„Mag sein. Frischen Proviant und Wasser, das brauchen wir. Aber wir wissen nicht ob es hier überhaupt noch etwas gibt, das nicht den Odem des Agens in sich trägt. Hör zu…“

Er beugte sich vor und zog mich näher an sich heran. „Wir müssen jemand finden, der noch gesund ist. Gefunden, schön und gut, dann müssen wir ihn dazu bringen uns von seinen Vorräten herzugeben.“

„Und wenn ein solcher jemand diese gern für sich behalten möchte?“

Medelin zuckte mit den Schultern und sah mich von oben herab an.

„Ich weiß gar nicht was du meinst, Yanthalbor. Kennst du den Satz vom Recht des Stärkeren?“

„Kein schöner Satz, aber leider wahr. Und wie, schlägst du vor, finden wir einen solchen Jemand?“

„Wir folgen den Leichenträgern. Wenn sich die Türen öffnen, können wir sehen, wie es um die Bewohner steht.“

Es dauerte nicht lange, bis ein Karren auftauchte, von einem dürren Ochsen gezogen, und von vermummten Gestalten flankiert. Es waren zwei. Der vorangehende hatte eine Art Peitsche in der Hand, mit der er alle paar Sekunden knallte. Der hintere rief dazu mit dumpfer Stimme einen Satz, der mir aus alten Schauergeschichten vertraut in den Ohren klang: „Bringt eure Toten heraus! Bringt eure Toten heraus!“

Vom Karren selbst hingen die verrenkten Glieder der aller Ärmsten herab, diejenigen nämlich, für die nicht einmal ein alter Sack übrig war, in die man die anderen Toten genäht und auf den Karren geschichtet hatte.

Wir folgten dem Karren in gebührendem Abstand, ständig das Knallen in den Ohren und den grauenhaften Gestank in der Nase.

Wenn die Türen sich öffneten und die Leichen verpackt oder unverpackt herausgeworfen wurden, erhaschten wir Blicke auf geschwollene Gesichter, manche grell bemalt und die schrundigen Leiber von durchlöcherten Fetzen nur notdürftig bedeckt. Apathisch vor sich hin stierende Männer, die stumm in dunklen Ecken hockten, Pfeifenstiele zwischen den Zähnen, auf das Ende wartend.

Und zuletzt die Kinder, staunend und ohnmächtig, die Daumen in Mündern, die wie klaffende Wunden wirkten, aufgeblähte Bäuche vor sich herschiebend, unfähig das herrschende Entsetzen zu begreifen. Kinder, deren Eltern längst unter der sandigen Erde lagen, deren Zukunft trüb und ohne Hoffnung war.

Es war ein Glück im Unglück für die Stadt, dass aller Sputum und sonstiger Auswurf in den staubigen Straßen vertrocknete; hätte ein feuchtes Klima geherrscht wären die Straßen vom Kot und Dreck überschwemmt gewesen.

Immer weiter führte uns der Todespfad, durch Gassen und Torbögen, schließlich am Graben der Feste entlang, in dessen Tiefen Unsägliches verborgen lag. Hügelan ging nun der Weg, der Ochse schnaufte unter seiner Last und brüllte vor Schmerz, wenn ihn ein antreibender Peitschenhieb auf die  empfindliche Nase traf.

„Bei Choros, “ sagte Medelin, „ich glaube ich weiß wohin sie gehen. Wenn das nicht der Weg zum alten Kink’el Renner ist, will ich die Leichen fressen, gleich hier und ohne Salz!“

„Wer ist der alte Kink’el Renner?“

„Ein Händler.“

„Aha.“

Schließlich erreichten wir einen von einem Holzzaun umfriedeten Platz, in dessen Mitte ein mehrstöckiges, turmbewehrtes Steinhaus stand, aus dessen Kamin jene mannsdicke, schwarze Rauchsäule quoll, die wir schon vom Vorgebirge aus gesehen hatten. Berge von Leichen lagen in steinern umfassten Gräben und ein Gestank beherrschte die Luft, dass einem der Atem stockte. Hier kippten die Karrenführer ihre Ladung einfach ab und machten sofort kehrt, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Wir standen nur wenige Minuten etwas unschlüssig auf dem grausigen Gelände, als sich die wuchtige, bronzen beschlagene Tür des düsteren Gemäuers öffnete und ein alter, gebeugter Mann heraustrat. Seine dunkle Haut war voller Falten und seine klebrigen weißen Haare reichten in kleinen Zöpfen bis auf die Schultern. Seine Kleidung bestand aus einem einzigen langen Gewand aus grobem Leinen, das er mit metallenen Klammern um Schultern und Hüften gerafft trug. Unablässig vor sich hinmurmelnd nahm er kaum Notiz von uns, sondern schlurfte zu dem neuen Leichenhaufen und begann mit einem scharfen Haken die Säcke aufzuschlitzen.

„Kink’el Renner, “ sagte Medelin leise. Der Alte reagierte nicht. „He! Kink’el Renner, Alter!“ rief Medelin nun etwas lauter. Endlich schien er uns zu bemerken und wandte uns sein zerfurchtes Antlitz zu. Dann huschte so etwas wie Erkennen über seine trüben Augen und er schenkte uns ein zahnloses Lächeln.

„Soll mich das Gift der Wüste holen, wenn das nicht Medelin ist, der Fuchs von Ardhii!“

Wenn er sprach, dann klang es, als hätte er einen Klumpen Brei im Mund.

„Theas Eredh, Kink’el. Große Geschäfte?“ antwortete Medelin. „Was tust du hier? Leichen fleddern?“

„Bei allen Hexen, Medelin! Er ist es wirklich! Ich dachte die Madranée hätte dich mit Haut und Haaren geschluckt, dich und deine teuflischen Künste. Wer ist der da?“

Damit war zweifellos ich gemeint.

„Ein Freund“, war die einzige Erklärung, die Medelin ihm gab. Sie schien dem Alten zu genügen, denn er winkte uns.

„Theas Eredh. Kommt näher.“

Zögernd traten wir an den Leichenberg heran. Die Körper waren teilweise schon in Verwesung übergegangen, einzelne Gliedmaßen fehlten, Augen waren eingedrückt, das tote Fleisch zerfressen von der Krankheit. Manch ein Leib war von einer Art weißlicher Substanz überzogen, die an Schimmelpilze erinnerte. Der Anblick gab mir den Rest. Mein Magen revoltierte heftig und ich unterdrückte mit Mühe den Drang, mich hemmungslos zu übergeben.

„Dein Freund ist so weiß im Gesicht, Medelin“, er hat doch nicht die Krankheit?“

„Nein, nein“, erwiderte Medelin, selbst ganz blutleer unter seiner dunklen Haut. „Er stammt aus dem Norden.“

„So? Aus dem Norden? Na wenn schon, auch wenn er die Krankheit hat, mich erwischt sie nicht, he he! Ich bin ihr Verbündeter!“

„Was machst du mit denen da?“ Dabei deutete Medelin auf die Toten.

„Ich verbrenne sie, aber vorher“, er kicherte wieder und seine kleinen trüben Augen bekamen einen gierigen Glanz, „hole ich mir meinen Lohn!“

Mit diesen Worten hob er seinen Haken und hieb ihn in das Fleisch einer weiblichen Leiche oben auf dem Berg. Träge purzelte sie hinunter und blieb mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen auf dem Boden liegen. In ihrer Mundhöhle glitzerte es golden.

„Na was haben wir denn hier?“ Kink’el Renner bückte sich und riss mit einer geübten Drehung des Hakens den Unterkiefer aus dem Gelenk. Es knackte laut. Ich wandte mich ab und verfolgte das weitere Geschehen nur noch akustisch. Weiteres Krachen hörte ich und das Brechen von Knochen, dazu unterdrückte Grunzlaute von Kink’el Renner, der offenbar schwer arbeitete. Dann ein zufriedenes „Ah!“ als er sich wieder aufrichtete und einen blinkenden Goldzahn vor den düsteren Himmel hielt. Medelin schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

„Kommt“, lud Kink’el Renner uns ein. „Ihr seid sicher hungrig von euren Wanderungen. Lasst uns ins Haus gehen.“ Damit schlurfte er voran.

 

Kink’el Renners Haus schien das reichste und wehrhafteste in Dhruum zu sein, wenn man von der Burg einmal absah. Durch die große, Eingangstür ging es in eine geräumige Halle, die gut einer Staatsversammlung Platz geboten hätte. Jetzt allerdings hatte sich hier eine ganz andere Art von morbider Gesellschaft einquartiert: Leichen von offensichtlich vornehmer Herkunft, wenn man die Reste der Kleidung in Betracht zog, und Leichen, deren Körper von der Seuche nicht allzu entstellt aussahen, lagen auf Tischen aus grobem Holz. Ich schätzte mindestens fünfzig an der Zahl. Dass sie noch nicht verwest waren mochte von der gelben pulverartigen Substanz herrühren, die Kink’el Renner über ihre Leiber gestreut hatte. Als hätte er meine Gedanken erraten sagte er: „Sulfurum, ihr Edlen, es hindert die Leiber am zerfallen.“

„Warum bewahrt Ihr sie auf?“ fragte ich.

„Ich zeige es Euch, kommt nur, kommt!“

In der Mitte der großen Halle befand sich eine große, viereckige Säule, die über einen kleinen Eingang verfügte. Dorthin ging er uns voran und öffnete die Tür, nahm eine Fackel aus einer Halterung, entzündete sie, um eine Wendeltreppe zu erklimmen, die sich ins obere Stockwerk schraubte. Der Raum darüber war genauso groß, aber heller, da hier diffuses Licht durch große Pergament bespannte Fenster hindurch den Raum erleuchtete. In Regalen stapelten sich alchemistische Utensilien. Ich kannte mich in solcherlei Dingen nicht aus, aber ich identifizierte Kolben aus Ton und Bronze, allerlei spitzes Werkzeug und Instrumentarium, Behälter aus Porzellan in denen verschiedene Pulver lagerten, ein großer Ofen an einer Wand, in dem ein Feuer loderte und Bänke und Tische, voller Folianten und Pergament Rollen.

Das wichtigste Inventar jedoch, bildete ein großer Seziertisch, auf dessen blutiger Oberfläche eine teilweise geöffnete Leiche lag. Durch das durchlittene Übel um mich herum inzwischen abgestumpft, trat ich ohne Abscheu näher und betrachtete mir die Leiche. Kink’el Renner hielt seine Fackel ein wenig höher, um in die Bauchhöhle zu leuchten. Deren Inhalt bot sich meinem Auge in scheußlicher Einmaligkeit dar: die auf- und absteigenden Darmwindungen waren deutlich zu erkennen, samt ihrem widerwärtigen Inhalt, Ein dunkles Etwas, welches ich als Leber erkannte, war halb herausgezogen und hing an der großen Pfortader, wie an einem glitschigen Marionettenfaden.

„Interessant“, sagte ich. „Ihr seziert die Leichen, um herauszufinden, wie das Leben beschaffen ist. Löblich, findest du nicht auch, Medelin?“

Medelin nickte, nahm aber nicht seine Hand vom Schwertknauf.

„Unsinn“, erwiderte da aber der Alte und machte ein verächtliches Gesicht. „Es ist mir gleich, wie ihre Körper beschaffen sind. Das ist bei allen gleich, seht, hier.“ Er deutete auf die bloßgelegte Bauchschlagader. „Hier strömt die Luft durch die Atemader, um die Organe zu versorgen. Ich weiß schon, es ist das Blut, an welches die Luft sich anhängt. Und hier ist der Apparat, welcher das Blut durch den Leib befördert.“ Er nahm wieder seinen schrecklichen Haken und hob damit den Brustkorb an. Er musste ihn vorher schon ausgelöst haben, denn er ließ sich ohne weiteres bewegen. Das Herz, in seinem schleimigen Beutel, war durch Blutleere ergraut, ein Längsschnitt ließ die beiden Kammern erkennen, und die Sehnen, welche die Klappen regulierten.

„Nichts als eine Pumpe, ein einfacher Mechanismus. Ich gebe zu, sehr wirkungsvoll, aber nichts weiter als Fleisch, jetzt leblos, tot, ohne Bedeutung für die Welt, reif für den Ofen.“ Er ließ die Brust wieder nach unten fallen und deutete mit dem Haken auf das Gesicht des Toten. „Was ihr hier seht, das sind die Reste des Merls von Dhruum. Es ist seine Hülle. Nein, mich interessiert nicht, wie diese Hülle beschaffen ist – verbranntes Fleisch, nein – “ Er ließ die Hand mit dem Haken sinken und stieß mit der Fackel kurz in die Bauchhöhle hinein. Ein Zischen war zu hören und leichter Brandgeruch breitete sich aus. Er kam ganz nah an mich heran, so dass ich seine Zahnfäule riechen konnte und zischte: „Es ist die Seele, die ich zu finden trachte!“

Klirrend ließ er den Haken zu Boden fallen und ging zu einer Kommode. „Ich habe sie nicht finden können. Nirgendwo. Nicht in den Leibern.“

Er setzte sich auf die Kommode.

„Ihr braucht Proviant, eh? Alles da, was ihr wollt.“

„Wir brauchen Mehl, Wasser, Bohnen…“sagte Medelin, wurde aber von dem Alten unterbrochen.

„Könnt Ihr haben, edler Medelin, könnt Ihr haben, aber sagt mir lieber, was Ihr über die rote Mader wisst!“

Medelin zuckte die Achseln.

„Nicht viel. Ich sah sie zum ersten Mal in Ardhii, kurz bevor die Gholkorentruppen des Reiches die Stadt Nazghad überfielen. Die Menschen werden schwach, ein Fieber nimmt von ihnen Besitz und sie beginnen zu verfaulen, bei lebendigem Leib.“

„Rote Flecken zeigten sich überall, die schwarz werden, mit der Zeit“, setzte der Alte die Aufzählung Medelin fort, „die Augenlider schwellen an, bis man sie nicht mehr auf bekommt, die Haut wird rissig, bis der Eiter daraus hervor fließt, ja, ein grausamer Tod steht bevor. Ich habe mich oft gefragt, wie eine solche Krankheit entstehen kann, auch sie habe ich gesucht, aber ich fand nur krankes Fleisch und nichts, dass es hat krank werden lassen. Wisst Ihr, was ich denke?“

Medelin schüttelte den Kopf. Der Alte sah sich um, als gäbe es in seinem eigenen Haus Spione, dann winkte er uns zu sich heran.

„Das Reich schickt die Seuche. Das Reich von Irûl. Sie wollen die Welt erobern, aber möglichst ohne Verluste. Sagtet Ihr nicht, edler Medelin, dass die Truppen von Irûl  erst dann in Saphi auftauchten, nachdem das Agens Euer Volk fast ausgerottet hatte?“

„Schon, aber das kann auch ein Zufall sein, eine Laune der Götter.“

„Das glaubt Ihr selbst nicht Medelin“, erwiderte der Alte spöttisch. Was immer Ihr vorhabt, Ihr solltet wissen, dass die Garde von Assilia hierher unterwegs ist, mit dem Auftrag die Stadt abzuriegeln und keine Maus mehr hindurch zulassen, bis die Seuche gebannt ist! Ihr solltet also schnell die Stadt verlassen. Meine Vorräte sind im Turm, folgt mir.“

Kink’el Renner führte uns durch eine weitere Tür in einen der Wehrtürme des Hauses. Hier fanden wir zur Genüge, was wir brauchten.

„Was ist mit Euch, Kink’el Renner? Wollt Ihr euch nicht auch in Sicherheit bringen, bevor die Gardisten Euch in Gewahrsam nehmen?“

„Nein, Medelin. Ich bleibe hier bei meinen Studien. Vielleicht finde ich sie ja doch noch, die Seele.“

„Du solltest sie bei den Lebenden suchen, Kink’el Renner, nicht bei den Toten.“

Und zu mir gewandt, sagte er dann:

„Komm! Wir haben nicht viel Zeit.“

Gerade hatten wir die südliche Stadtmauer hinter uns gebracht und befanden uns auf der Straße nach Assilia, als wir von weitem das Klirren und Stampfen hörten.

Medelin blieb stehen und hielt mich am Ärmel fest.

Dann kamen sie hinter einem großen Sandhügel hervor. Ihre Harnische und Federhelme glänzten in der Abendsonne und sie rückten in breiter Front auf Kamelen gegen die Stadt vor.

Wir machten kehrt und rannten zum Stadttor zurück, hinter die schützende Mauer und versteckten uns dort.

Bald hatte der Trupp ebenfalls die Stadt erreicht und schwärmte sofort aus. Der dröhnende Klang ihres Gleichschritts ließ den Boden erzittern, laut hallten ihre Befehle von den alten Mauern wider.

Kinder wurden in Gruppen zusammengetrieben, zeternde Frauen aus Nischen gezerrt und einzeln herum streunende Männer heran kommandiert. Die Garde hatte das Kommando  übernommen. Auf dem Landweg kamen wir nur noch gen Norden heraus. Von dort waren wir gekommen und dorthin mussten wir wieder zurück.

„Die benehmen sich seltsam, für die Garde von Assilia. So brutal kenne ich sie gar nicht“, sagte Medelin und spuckte aus. „Besser wir laufen diesen Gesellen nicht in die Hände“.

Wir verbrachten die Nacht hinter den Hügeln.

Sollte uns die Garde aufgreifen, war uns gewiss, dass wir gemeinsam mit den Bewohnern von Dhruum isoliert werden würden und es war fraglich, ob ich einen längeren Kontakt mit Erkrankten unbeschadet überstehen würde.